Schwere Planetengetriebe: Schraubsystem am flexiblen Handlingarm
Normen durchgeackert, Konstruktionen geändert, Prozesssicherheit erhöht
Nachdem sich bei einem Getriebe vor zwei Jahren im Betrieb Schrauben lösten, stellte Rollstar intern alle Prozesse infrage: Ein Projektteam wurde gebildet, es wurden Normen gewälzt, Konstruktionen analysiert und geändert. Eine völlig neue Schraubtechnik sowie definierte Prüfprozesse sind nur das äußere Ergebnis eines umfassenden inneren Wandels, der alle Abteilungen erfasst und vom Management vorgelebt wird.
21. Juni 2017
Essen/Egliswil (CH), Juni 2017. "Offiziell würden diese Schraubstellen in die Schraubfallklasse B fallen, wobei wir noch in B-1 und B-2 unterscheiden", sagt Patrick Rauch, Teamleiter Konstruktion der Rollstar AG im schweizerischen Egliswil. "Aber sie sind uns so wichtig, dass wir sie wie Kategorie-A-Schrauben behandeln." Zwar bestehe keine Gefahr für Leib und Leben oder die Umwelt, wie es für Kategorie A definiert ist. "Aber bei einem Ausfall während des Betriebes könnte es zu langen Stillstandszeiten und folglich hohen Kosten kommen!"
Rauch spricht von den jeweils 20 Schrauben des oberen Flanschdeckels eines Planetengetriebes, das mit Abtriebs-Drehmomenten von bis zu 100000 Newtonmetern (Nm) später zum Beispiel in schweren Tunnelbohrmaschinen oder Biegemaschinen eingesetzt wird. Seit sich bei einem Getriebe aus dieser Baureihe vor zwei Jahren im Betrieb einmal Schrauben lösten, hat Rollstar im Unternehmen keinen Stein auf dem anderen gelassen. Geschäftsführer Ulrich Ziegler bat kurz nach dem Vorfall Atlas-Copco-Vertriebsberater Frank Thies zu einem Gespräch. Der erklärte dem Rollstar-Projektteam - neben dem Management waren die Abteilungsleiter aus Konstruktion, Montage und Qualitätssicherung mit dabei -, dass die damals gerade in Deutschland verabschiedete VDI/VDE 2862 Blatt 2 neuerdings alle Maschinen- und Anlagenbauer in die Pflicht nehme: Die Richtlinie definiert Mindestanforderungen an Schraubsysteme in Abhängigkeit vom Risiko, das von den jeweiligen Schrauben ausgeht. Thies machte klar, dass dafür eine Risikobewertung und damit Klassifizierung der Schraubfälle erforderlich sei. Und er erklärte, dass die VDI 2230 und andere Richtlinien eine "fachgerechte konstruktive Auslegung" vorgäben, die VDI/VDE 2645 neuerdings "fachgerechte Prüfprozesse" anmahne.
Abgesicherter Prozess zur Klassifizierung und Montageplanung
Das wichtigste Argument aber war, dass sich die Jurisdiktion im Falle von Produkthaftungsfragen früher oder später auf diese Richtlinien beziehen werde: Für produzierende Unternehmen könne es unangenehm werden, wenn man bei Beanstandungen nicht in der Lage sei, nachzuweisen, alles Erforderliche getan zu haben, um die Montage der Schrauben abzusichern.
Wir wollen sicher sein, dass unsere Montage- und Prüfprozesse an allen Stellen den jeweils aktuellsten Normen und Richtlinien entsprechen
Rollstar hatte damals noch keinen abgesicherten Prozess gemäß neuester Normen installiert, nach welchen die Schraubfälle im Unternehmen klassifiziert und die Montage geplant wurde. "Schließlich hatten wir auch über Jahrzehnte praktisch keine Probleme mit unseren Getrieben und Hydromotoren", sagt Ziegler heute. "Da kommt man erst mal nicht auf die Idee, dass man sich am Rande der Legalität bewegt." "Rollstar hat die Dringlichkeit damals sofort erkannt", sagt Atlas-Copco-Mitarbeiter Frank Thies heute rückblickend. Der Rollstar-Chef habe sofort eine Projektgruppe zusammengestellt und von seiner Mannschaft gefordert, nicht nur diesen (Problem-)Schraubfall genau zu untersuchen und abzusichern, sondern nach und nach alle Schraubfälle zu klassifizieren und die Montageprozesse auf die Notwendigkeiten auszurichten. "Damit hat Rollstar ein Risikobewusstsein und eine Konsequenz an den Tag gelegt, die im Maschinenbau noch nicht sehr weit verbreitet ist", findet der Atlas-Copco-Experte. Ihm imponiert, dass die Philosophie bei dem Schweizer Unternehmen "top-down" gelebt werde.
Rollstar hat nach der Reklamation ein Risikobewusstsein und eine Konsequenz an den Tag gelegt, die im Maschinenbau noch nicht sehr weit verbreitet ist.
Bauteil wurde sofort konstruktiv angepasst
"Wir haben damals als erste Sofortmaßnahme das Bauteil konstruktiv angepasst und unter anderem längere Schrauben verwendet", erklärt Rollstars Teamleiter Konstruktion, Patrick Rauch, die ersten Maßnahmen. "Danach haben wir den kompletten Schraubprozess neu aufgerollt, um alle negativen Szenarien durchdenken zu können und zu vermeiden." Nach internen Diskussionen zwischen Konstruktion und Geschäftsführung wurde Atlas Copco Tools noch einmal eingeladen. Gemeinsam schaute man sich die Montage an, Frank Thies und seine Kollegen rieten zunächst zu Schraubfallanalysen, um herauszuarbeiten, welche Klemmkräfte in den Verbindungen wirklich vorherrschten und welche nötig seien. Rollstar griff den Ansatz auf und beriet sich wiederum mit seinem Schraubenlieferanten.
"Vor allem haben wir damals die neuen Normen und Richtlinien konsultiert und Kapitel für Kapitel durchgearbeitet", betont Rauch. Neben der VDI/VDE 2862 Blatt 2 war das auch die VDI 2230 Blatt 2, um sich neben den Risikoklassen der Schraubfälle auch über jeweils zulässige Werkzeuge und geforderte Prüfverfahren klarzuwerden. Dann wurden intern die Schraubfallkategorien definiert und die Montageanweisungen entsprechend angepasst.
Von Risikoklassen über zulässige Werkzeuge bis hin zu Prüfverfahren
Zuvor wurde aber noch die Verschraubung der Getriebe optimiert. Nachdem die ersten Analysedaten vorlagen, war klar, dass die Schraubverbindungen so zahlreichen unterschiedlichen Einflüssen unterlagen, dass man diese mit den bisherigen Montagevorgaben nicht optimal umsetzen konnte. "Unter anderem schwankten die Reibwerte sehr stark", erklärt Rauch. "Das war ein Punkt, den wir mit dem Wechsel auf beschichtete Schrauben lösen konnten. So erhielten wir konstantere Reibwerte, die sich in definierten Drehmomenten beziehungsweise einer immer gleichen Schraubstrategie niederschlugen." Außerdem wurde ein neues Element entwickelt und patentiert, welches den Befestigungsflansch - neben den Schrauben - zusätzlich verbindet und zugleich die Montage erleichtert. Neben den längeren Schrauben, der Beschichtung und dem neuen Spannelement führte die Konstruktion zum Teil andere Werkstoffe ein.
Die Schraubverbindungen sind uns so wichtig, dass wir sie wie Klasse-A-Schrauben behandeln, obwohl sie laut Norm "nur" als funktionskritisch gelten.
Der erste Verbesserungsansatz sah vor, "nur" die Prüfprozesse zu verändern: Die Schraubverbindungen sollten mit einem elektronischen Messschlüssel vom Typ ST-Wrench nachgezogen werden. Stattdessen wurde aber der Fertigungsprozess optimiert, und zwar mit einem gesteuerten Hochmomentschrauber des Typs Tensor Revo von Atlas Copco Tools. "Hintergrund für uns war, dass wir den Bedienereinfluss reduzieren, reproduzierbare Anzugswerte erhalten und auch die Möglichkeit der Dokumentation nutzen wollten", führt der Konstrukteur weiter aus. "Außerdem sollten die Mitarbeiter ergonomisch entlastet werden." Aufgrund der neuen Parametrierung des Revo-Schraubsystems wurden die ersten Schrauben oft überzogen. Man schaute sich die Reibwerte nochmals an, wechselte die Beschichtung.
Nach der Qualität wurde auch die Ergonomie optimiert
Produktion wird nach Lean-Aspekten organisiert
Eine Besonderheit der beiden Articulated Arms in Egliswil ist, dass sie mobil sein mussten und nicht, wie sonst üblich, im Betonboden verankert oder an einer festen Säule in der Halle fixiert werden sollten. "Wir sind gerade dabei, unsere Montage nach Lean-Gesichtspunkten umzugestalten", erklärt Michael Wacker, Projektleiter bei Rollstar. "Da diese Planungen aber noch nicht abgeschlossen sind, wollten wir mit den Montagestationen für unsere Planetengetriebe erst mal flexibel bleiben." Spricht es und nimmt sich einen elektrischen Hubwagen, um einen der beiden Articulated Arms samt Schraubtechnik für die nächsten Getriebe an eine andere Stelle zu fahren.
Spannelemente reduzieren Setzerscheinungen
Mit dem neuen Schraubsystem ist die Streuung bei den Klemmkräften drastisch zurückgegangen
Software gibt Überblick über alle Schraubdaten in Echtzeit
"Inzwischen haben wir auch die Tools-Net-4000-Software von Atlas Copco angeschafft und uns nach den ersten montierten Getrieben vergewissert, dass die Drehmomente und Drehwinkel stimmen", sagt Wacker. Derzeit nutzt Rollstar die Software vorrangig, um alle Schraubergebnisse zu speichern.
Demnächst will man einen Barcode-Scan integrieren, über den der Mitarbeiter das Aggregat identifiziert und den Prozess startet. Atlas-Copco-Berater Frank Thies ergänzt, dass über Tools-Net auch eine Analyse des Schraubprozesses möglich sei: "Damit können Sie etwaige Fehler in Schraubenlosen schneller finden oder auch ein engeres Toleranzfenster setzen und so den Prozess weiter optimieren", wendet er sich an die Herren Wacker und Rauch, die diese Information interessiert aufnehmen. Denn nach und nach wollen sie alle 80 bis 140 Schrauben an dieser Serie an Planetengetrieben sowie später alle Schrauben an allen Produkten klassifizieren. Gegebenenfalls werden dann die Konstruktionen sowie Werkzeugtechnologie und Schraubstrategien angepasst. Außerdem sollen in Kürze Ultraschallmessungen weiteren Aufschluss über das Setzverhalten geben, woraufhin möglicherweise eine definierte Anziehreihenfolge vorgegeben werden könnte. "In jedem Fall wollen wir alles tun, um unsere Prozesse so sicher wie nur irgend möglich im Griff zu haben", betonen Patrick Rauch und Michael Wacker.
(Autor: Thomas Preuß, Pressebüro Turmpresse, Königswinter)
- Presseinfo Atlas Copco Tools Normen durchgeackert, Konstruktionen geändert, Prozesssicherheit erhöht 1.3 MB, PDF
- Power Focus at Rollstar 1.9 MB, JPEG
- Tensioning element at Rollstar 2.6 MB, JPEG
- Patrick Rauch 1.8 MB, JPEG
- Frank Thies 1.5 MB, JPEG
- Michael Wacker 2 MB, JPEG
Über die Rollstar AG, CH-Egliswil
Schweizer Präzision und Zuverlässigkeit haben auch im Getriebebau einen Namen – Rollstar. Das Familienunternehmen wurde 1966 gegründet und hat derzeit 55 Mitarbeitende. Rollstar entwickelt, baut und vertreibt Hydraulikmotoren und Planetengetriebe und hat sich mit kompakten Abmessungen, hoher Qualität bei kurzen Lieferzeiten durch Modulbauweise sowie kundenspezifische Antriebslösungen weltweit einen Namen gemacht. Rollstar stellt Getriebe für Drehmomente bis 6 Millionen Newtonmeter her. Die Produkte des im schweizerischen Egliswil ansässigen Unternehmens werden in Tunnelbohrmaschinen, Erdbohrgeräten oder Werkzeugmaschinen eingesetzt. Abnehmerbranchen sind auch die Hüttenindustrie, der Schiffsbau sowie Maschinenhersteller für die Prozessindustrie.